Der Hintergrund zur Graphic Novel:
Vom Kriegschaos zum „Aachener Experiment“: Wie Aachen zur ersten befreiten Großstadt Deutschlands wurde
Vor über 80 Jahren, im Oktober 1944, wurde Aachen zum Symbol eines historischen Wendepunkts. Während der Zweite Weltkrieg in Europa noch tobte, erlebte die Kaiserstadt als erste deutsche Großstadt ihre Befreiung. Doch der Frieden kam nicht als Erlösung – sondern als schwieriger Neubeginn.
Vom Glanz zur Trümmerstadt
1939 zählte Aachen rund 140.000 Einwohner. Fünf Jahre später, nach zahllosen Luftangriffen und erbitterten Kämpfen, lebten nur noch etwa 11.000 Menschen in den Ruinen der Stadt. Am 17. Oktober 1944 endete die sechswöchige Schlacht um Aachen: Amerikanische Truppen zogen ein.
Während wenige Kilometer weiter im Hürtgenwald noch eine der blutigsten Schlachten des Westfeldzugs tobte und über 24.000 Soldaten starben, begann in Aachen bereits ein neuer Abschnitt – zögerlich, erschöpft, aber mit einem Hauch von Hoffnung.
Misstrauen und Neuanfang unter amerikanischer Aufsicht
Die Alliierten kamen über die Normandie – nach dem D-Day am 6. Juni 1944 – und hatten Frankreich, Belgien und die Niederlande befreit, bevor sie die deutsche Grenze erreichten. In Aachen wurden sie von einer ausgehungerten Bevölkerung empfangen, die nach Jahren des Krieges kaum mehr besaß als das Nötigste.
Doch die Befreier waren nicht nur Freunde. Viele Aachener sahen die amerikanischen Soldaten mit Skepsis – zu fremd, zu mächtig, zu unberechenbar. Auch die Besatzungstruppen wussten nicht recht, wem sie trauen konnten. Sie wollten Ordnung schaffen, aber diesmal mit deutschen Händen.
So entstand die Idee des „Aachener Experiments“: Eine deutsche Stadt sollte unter alliierter Aufsicht, aber mit einer eigenen Verwaltung geführt werden. Wenn Aachen funktionierte, sollte das Modell Schule machen.
Franz Oppenhoff – ein mutiger Jurist zwischen den Fronten
Für das Amt des neuen Oberbürgermeisters suchten die Amerikaner eine unbelastete Persönlichkeit. Der Aachener Bischof empfahl den 38-jährigen Franz Oppenhoff, einen Rechtsanwalt, der während der NS-Zeit jüdische Mandanten verteidigt hatte – ein gefährlicher Akt des Widerstands.
Die Nazis verboten ihm daraufhin die Berufsausübung. Oppenhoff floh nach Eupen, wo er eine Waffenfabrik leitete und so dem Fronteinsatz entging. Als ihn im Oktober 1944 eine amerikanische Delegation bat, die Verwaltung der zerstörten Stadt zu übernehmen, sagte er nach einigem Zögern zu.
Doch der Neuanfang war schwierig. Oppenhoff galt als streng katholisch, konservativ und antikommunistisch. Geheimdienstoffiziere der Alliierten beschrieben ihn als pflichtbewusst, aber politisch wenig demokratisch. In Berlin hingegen sah man in ihm einen Verräter.
Das tödliche Kommando der „Werwölfe“
Im Frühjahr 1945 – während das Reich in seinen letzten Zügen lag – plante Heinrich Himmler ein Attentat auf Oppenhoff. Der Mord sollte ein Signal an die Bevölkerung sein: Niemand, der mit den Alliierten zusammenarbeitete, war sicher.
Eine geheime SS-Einheit, die sogenannten „Werwölfe“, erhielt den Auftrag. Das Kommando bestand aus SS-Offizieren Herbert Wenzel, Joseph Leitgeb, Georg Heidorn, Karl-Heinz Hennemann, der 22-jährigen Ilse Hirsch und dem 16-jährigen Hitlerjungen Erich Morgenschweiss.
Mit einem erbeuteten amerikanischen Bomber gelangten sie über die belgisch-niederländische Grenze. Beim Versuch, nach Aachen zu gelangen, erschossen sie den niederländischen Grenzsoldaten Jeu Saive. Am Palmsonntag, dem 25. März 1945, drangen sie schließlich in Aachen ein – und erschossen Oppenhoff in seinem Haus an der Eupener Straße.
Vom Experiment zum Skandal
Nach Oppenhoffs Tod galt das „Aachener Experiment“ als gescheitert. Auch weil der Oberbürgermeister in seiner kurzen Amtszeit einige ehemalige NSDAP-Mitglieder wieder in die Verwaltung aufgenommen hatte – aus Mangel an Alternativen, aber auch aus Pragmatismus.
Was als demokratisches Pilotprojekt gedacht war, endete in einem politischen und moralischen Dilemma. Doch trotz allem bleibt Aachen ein Symbol – für den schwierigen Übergang von Krieg zu Frieden, von Diktatur zu Demokratie.
Ein Vermächtnis, das mahnt
Heute, acht Jahrzehnte später, erinnert die Stadt Aachen mit Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen und Straßenbenennungen an Franz Oppenhoff und die Ereignisse jener Monate.
Sein Schicksal steht stellvertretend für viele, die zwischen alten Machtstrukturen und neuen Hoffnungen zerrieben wurden. Oppenhoff war kein Held im klassischen Sinne – aber er war einer der Ersten, die versuchten, nach Jahren des Wahns wieder Ordnung und Menschlichkeit in eine zerstörte Stadt zu bringen.
